Fluchtpunkte

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Mein Atheismus war so radikal und felsenfest verankert, dass ich es nie geschafft hatte, diese Themen wirklich ernst zu nehmen. Wenn ich während meiner Schulzeit mit einem Christen, einem Muslim oder einem Juden diskutierte, hatte ich immer den Eindruck gehabt, dass ihr Glaube nicht ganz ernst zu nehmen war; dass sie unmöglich an die Realität der vertretenen Dogmen glauben konnten, sondern dass es sich dabei um ein Erkennungszeichen oder eine Art Kennwort handelte, das ihnen Zugang zur Gemeinschaft der Gläubigen verschaffte – etwa so wie es der Grunge oder Doom Generation für die Anhänger dieser Stilrichtungen bewirken konnte. Der tiefe Ernst, mit dem sie manchmal über theologische Standpunkte, die alle gleich absurd waren, debattierten, schien dieser Hypothese zu widersprechen; aber eingefleischten Spielern ging es im Grunde genauso: Für einen Schachspieler oder jemanden, der sich ernsthaft in ein Rollenspiel vertieft, ist der fiktive Raum des Spiels etwas völlig Ernstzunehmendes, Reales, man kann sogar sagen, dass für ihn zumindest für die Dauer des Spiels nichts anderes mehr existiert.

Michel Houellebecq: Die Möglichkeit einer Insel

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