Letzten Sonntag begann die Saison in der NRW-Oberliga. Mit der 2. Mannschaft des SV Wattenscheid traten wir in Emsdetten gegen deren 2. Mannschaft an – beides Teams mit Spielern im Kader aus der Schachbundesliga. Während der Anreise erfuhren wir, dass ein Kamerad kurzfristig abgesagt hatte. Normalerweise ein Ärgernis, aber da ich mich eh nur stiefmütterlich vorbereitet hatte und plötzlich mit Weiß agieren durfte, nahm ich es gelassen zur Kenntnis. Ich bekam es mit IM Thomas Fiebig an Brett drei zu tun. Diese Partie habe ich für diese Rubrik aufbereitet.

Souleidis,Georgios (2380) – Fiebig,Thomas (2417) [C12]
NRW-Oberliga SK Turm Emsdetten II – SV Wattenscheid II (1), 18.09.2011

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 Hier dachte ich einige Minuten nach, welche Variante mein Gegner spielen könnte. Ich hielt es für wahrscheinlich, dass er ein Fan der MacCutcheon-Variante ist und so wählte ich 4. Lg5 statt 4. e5. 4.Lg5 Lb4 5.e5 h6 6.Le3 Die „alte“ Hauptvariante beginnend mit 6.Ld2 fand ich nie überzeugend. Der Textzug ist eine interessante und viel weniger erforschte Alternative. Hierzu gibt es die folgende Vorgeschichte. Zwischen 2010 und 2011 spielte ich über Silvester u. a. mit Arkadij Naiditsch den Rilton Cup in Stockholm. Die deutsche Nr. 1 trat in der 7. Runde gegen Sergey Volkov an. Es kam genau diese Variante aufs Brett. Nach dem Turnier schrieb ich einen Bericht für die Zeitschrift „Schach“ und analysierte die Partie. Vorher hatte ich mich bei Naiditsch über die Güte und die Varianten erkundigt. Somit war ich damals gut im Bilde. Sich neun Monate später daran zu erinnern, fiel mir am Brett zwar schwer, aber im Großen und Ganzen gelang es mir ganz gut. 6…Se4 7.Dg4 Kf8

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8.a3! Weiß opfert einen Bauern, erhält aber gewaltigen Entwicklungsvorsprung. Nach der Alternative 8.Sge2 erhält Schwarz mit 8…c5 aus meiner Sicht zu viel Gegenspiel. 8…Lxc3+ 9.bxc3 Sxc3 10.Ld3 Sc6 11.Sf3 Sa4!?

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Eine interessante Idee von Volkov, der diese Variante fast im Alleingang bereichert hat. Der Springer soll nach c4 überführt werden. Zur Zeit trägt die Stellung noch einen geschlossenen Charakter, so dass sich Schwarz so eine Umgruppierung leisten kann. 12.0-0 Sb2 13.Le2 Den Läufer muss man natürlich auf dem Brett halten. 13…Sc4 14.Sd2

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14…Sxd2 Ich vermute, dass das inklusive der weiteren Fortsetzungen ungenau ist. Eine typische Enginge-Variante lautet: 14…h5 15.Df4 g5 16.Dg3 Sxd2 17.Lxd2 Sxd4 18.Ld3 Auf dem ersten Blick hat Weiß schöne Kompensation für die zwei Bauern, da er viel besser entwickelt ist und insbesondere auf den schwarzen Feldern angreifen kann. Nach der Partie fanden wir beide 14…S6a5!? interessant, um den Punkt c4 und die Stellung geschlossen zu halten. 15.Lxd2 f5 Eine Idee, die aus taktischen Gründen gewählt wurde. Der Nachteil ist, dass sich die Stellung öffnet und die weißen Läufer aktiv ins Spiel eingreifen. Spätestens hier hielt ich es für sehr wahrscheinlich, dass Fiebig die Partie Naiditsch-Volkov kennen muss, denn er spielte recht schnell. Nach der Partie erfuhr ich aber, dass er sie nicht kannte und ihm die Idee mit 14…Sxd2 nebst 15…f5 am Brett auf- und gefiel. 16.exf6 Dxf6 17.c3 e5 18.Dg3

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18…exd4 Die Partie Naiditsch,A (2685)-Volkov,S (2594), Stockholm 2011, verlief 18…Lf5 19.Tae1 exd4 20.c4 d3 21.Lxd3 Lxd3 22.Dxd3 d4 23.Te4 Kg8 24.Tf4 Dd6 25.Te1 Td8 26.c5 Dxc5 27.Dg6 Dg5?? (27…Dd5 28.Te6 Dd7 29.Tfe4 Tf8 30.Lb4 Df7 31.Lxf8 Dxg6 32.Txg6 Kxf8 33.Tg3!±) und hier hätte 28.Te8+! Txe8 29.Dxe8+ Kh7 30.Dxh8+! Kxh8 31.Tf8+ Kh7 32.Lxg5+- sofort gewonnen. 19.c4!? dxc4 20.Lxc4 Le6 21.Lxe6 Dxe6

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Bis hierhin war alles sehr logisch. Nun überlegte ich recht lange, welchen Turm ich wohin ziehen sollte. 22.Tfe1 Besser dürfte 22.Tab1! sein. Nach 22…Tb8 (22…b6? 23.Tbc1!+-) analysierten wir nach der Partie 23.Dxc7 Kg8 (23…Dc8!?) 24.Txb7 Txb7 25.Dxb7 Kh7 26.Tc1 Tc8 Weiß steht aktiver, aber er muss genau agieren, da der Bauer auf d4 schnell gefährlich werden könnte. 22…Dd7 23.Tab1 Tb8 24.Te4 Hier kam 24.Dg6! in Betracht. Während der Partie dachte ich, dass Schwarz sich nach 24…Kg8 25.Txb7 Tf8 langsam befreien könnte, aber nach 26.Tc1 Tf6 27.Dg3± fällt der schwarze Damenflügel langsam aber sicher zusammen. 24…Kg8 25.Tbe1

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Diese Stellung hatte ich angestrebt und glaubte an meine Angriffschancen. 25…Tf8?? Ein Blackout. Dabei wurde es jetzt erst richtig spannend. 25…Kh7! 26.Te6 Df7! (26…Thf8 27.Lxh6 Df7 28.Lxg7! Dxg7 29.Dd3+ Kh8 30.Tg6 Tbe8 31.Txe8 Txe8 32.Kf1!! Dh7 33.Df5!+-) 27.Lxh6 gxh6 und hier scheint Weiß nach 28.Dd3+ Kg7 29.Dg3+ Kf8 30.Dh4 Kg7 31.Dg3+= nicht mehr als Dauerschach zu haben. 26.Lb4!+- Plötzlich spielt der Läufer auch mit. Gegen die Drohung 27. Te7 gibt es keine Verteidigung. Der Rest erfolgt ohne Kommentar. 26…Tf6 26…Tf7 27.Dg6! mit der Idee 28. Te8+ gewinnt. 27.Te7! Sxe7 28.Txe7 Dxe7 29.Lxe7 Te6 30.Lb4 c5 31.Db3 Kf7 32.Lxc5 Tc8 33.Dxb7+ Kg6 34.Db1+ Kf7 35.Df5+ 1-0

Kommentare

5 Antworten zu “Der Faktor Entwicklungsvorsprung (10)”

  1. PeterB am 27. September 2011, 13:51

    Gratulation, sehr schöner Sieg.
    Trotz häufiger Französischanwendung bekomme ich (leider oder Gott sei Dank) dieseVariante nie aufs Brett. Aber so ganz überzeugt bin ich von den schwarzen Springermanövern am Damenflügel nicht, ebensowenig vom späteren f5. Warum nicht die typische Französisch-Idee 10…c5 (statt Sc6)? Öffnet zwar die Stellung, aber z.B. 11. dxc5 Sc6 12. Sf3 Da5 sollte doch genug Gegenspiel für Schwarz vorhanden sein!?
    P.S. dass ein IM mit über 2400 die Naiditsch Partie trotz Veröffentlichung in SCHACH nicht kannte, kann ich kaum glauben…

  2. Georgios Souleidis am 27. September 2011, 17:45

    Zu der Variante, die du angibst, gibt es 2-3 Partien. Ich wäre mit Weiß aber froh, den Bauern auf diese Weise zurückzuerhalten und nach kurzer Rochade einfach auf die bessere Entwicklung zu pochen. Mit dem König auf f8 braucht Schwarz einige Tempi, um sich zu konsolidieren. In der Partie selbst gibt es ja noch genügend Spielraum für Schwarz, die Partie zu verbessern. Ich glaub, dass man sich die Engine-Variante nach 14…h5 näher anschauen müsste. Ich bin mir nicht sicher, ob Weiß da was hat.

  3. Peter B am 08. Oktober 2011, 10:07

    Ich hab mal in chesslive.de gesucht, da gibt es 8 Partien nach 12. … Da5. Leider mit einem eindeutigen Score 87,5% für Weiß. Zum Spaß habe ich mal ein Computerturnier (15 min) mit verschiedenen kostenlosen Schachengines (u.a. Critter und Houdini) laufen lassen. Auch hier eindeutiges Ergebnis, 10… c5 bekommt 65% für Weiß; 10… Sc6 nur 10%!! Ich lass das mal weiter laufen und poste mal das Ergebnis…

  4. Peter B am 11. Oktober 2011, 21:55

    So, das Computerturnier (100 Schnell-Partien) nach der Partiestellung 14. Sd2 ist beendet. Ich bin noch die Tendenzen schuldig:
    14… h5 wurde in 92 Partien gewählt (Rest Sxd2) mit der Folge 15. Df4 g5 16. Dg3 Sxd4 17. Lxd4 (Lxc4 scheint schwächer) Sxd2 18. Tfd1 Se4 19. De3 c5 (19…g4 20. c4! Vorteil Weiß) 20. Lb2 g4 21. Dxe4 (c4!?) Db6 22. Df4 (De3 =) Dxb2 23. Tab1 (Df6 Tg8 =) Dc3 24. Ld3 Kg8 =
    Alles klar!?

  5. Georgios Souleidis am 12. Oktober 2011, 11:25

    Bei 100 Computerpartien scheint mir das aussagekräftig, sprich 14…h5 ist besser als 14…Sxd2. Als ich die Stellung nach 14…h5 usw. auf dem Bildschirm hatte, war ich mir nicht sicher, ob Weiß genügend Kompensation hat, andererseits ist es nicht „menschlich“, als Schwarzer den König so zu entblößen. Vielen Dank für die Analyse!

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