Die totale Verarsche

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Letztens habe ich noch das frische Buch „Dismantling the Sicilian“ von Jesus de la Villa ((Mal wieder zugelangt)) gelobt. Nun muss ich mein Urteil zumindest teilweise revidieren.

In der vierten Runde der OIBM ((13. Offene Internationale Bayerische Meisterschaft)) trat ich mit Weiß gegen Leonid Milov an. Da er fast ausschließlich Taimanov-Sizilianisch spielt, nahm ich mir das genannte Buch und „studierte“ in gut drei Stunden die dortigen Empfehlungen. Natürlich lief im Hintergrund immer eine Engine, doch gut 30 Seiten Theorie kann man nicht mal eben wasserdicht prüfen. Bei einer bestimmten Variante verließ ich mich im Endeffekt auf den Empfehlungen des Autors, ein großer Fehler.

Souleidis,Georgios (2429) – Milov,Leonid (2558) [B48]
13. OIBM Bad Wiessee (4), 03.11.2009

1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sc6 5.Sc3 Dc7 6.Le3 a6 7.Dd2 Sf6 8.0-0-0 Lb4 9.f3 0-0

Das ist eine Modevariante im Taimanov-Sizilianer. Ich hatte gesehen, dass Milov diese Variante in letzter Zeit angewandt hatte, also konzentrierte ich mich in meiner Vorbereitung auf diese Variante und folgte den Empfehlungen des Autors. 10.a3 Le7 11.g4 b5 12.g5 Sh5 13.Sce2?!

Jesus de la Villa vermerkt diesen Zug mit einem Rufzeichen. Der Springer soll nach g3 und den Springer h5 befragen. Ein schlüssiger Plan, um den Angriff am Königsflügel fortzusetzen. 13…Sa5! Milov spielte sehr schnell, aber ich dachte mir, dass er sich die Variante nicht gut genug angeschaut hat. Sehr naiv. Nach der Partie verriet er mir, dass er die Stellung heute eingehend analysiert hatte. Da ich den Angaben des Autors vertraute, spielte ich aber einfach meine Vorbereitung runter. Zu 13…b4 gab es eine wichtige Partie, wird im Buch gar nicht erwähnt, die ich mir ausführlich angeschaut und einen kleinen Vorteil gefunden hatte. 14.Sg3 14.Dc3 Dxc3 15.Sxc3 gab Milov nach der Partie mit ausgeglichener Stellung an. 14…e5!

A radical measure in a delicate situation. White´s reply is a powerful tactical sequence that looks completely sound. The first player had to calculate it on the previous move (Jesus de la Villa).
Absoluter Quatsch. Nach 14…e5 steht Weiß schon schlechter. So wie es der Autor im Buch angibt, steht Weiß sogar auf Verlust. 15.Sxh5? Danach gibt es kein Zurück mehr, denn Weiß opfert eine Figur. Man müsste hier schon mit 15.Sc6! die Notbremse ziehen, nach 15…dxc6 (15…Dxc6? 16.Dxa5) 16.Sxh5 Td8 steht Schwarz aber komfortabel. 15…exd4 16.Kb1 Notwendig, da 16…Sb3+ drohte. 16…dxe3 17.Dd4 f6 18.gxf6 Lxf6 18…gxf6 is the move that forces the most precise calculation, but is obejctively worse: 19.Dxe3 Kh8 20.Dh6 Tf7 21.Tg1 Dc5 22.Tg7+- Chulivska-Marchadour, Guingamp 2007 (Jesus de la Villa). 19.Sxf6+

19…gxf6! Diesen Zug erwähnt der Autor nicht! Wahrscheinlich kann man nicht in einem gut 300-Seiten-Buch alle Varianten so gründlich analysieren, dass keine Fehler enthalten sind, aber man kann erwarten, dass der Autor das vorhandene Material kurz prüft. Milov erzähte mir irgendwas von einer Partie Georgievs mit dieser Variante. Die fand ich zwar nicht, aber ich fand neben der Partie, die der Autor später erwähnt, eine andere Partie, die in den üblichen Datenbanken auftaucht und die deutlich macht, dass Weiss hier schnurstracks gen Verlust steuert. 19…Txf6? 20.Dd5+ Tf7 21.Dxa8 Sc6 22.a4 Tf8 23.axb5 Sb4 24.Tc1± Lb7? 25.Da7 axb5 26.Dxe3+- Arizmendi Martinez,J (2520)-Arbakov,V (2374), Linares 2003, gibt Jesus de la Villa nur an. 20.Dd5+ Irgendwie merkte ich nun, dass etwas nicht stimmt, aber da ich eine Figur weniger hatte, gab es keine Alternativen mehr. 20…Kh8 21.Dxa8 Sc6! Die Dame ist gefangen. Der Unterschied zur Partie Arizmendi-Martinez-Arbakov ist, dass der Turm auf der achten Reihe steht. 22.a4 22.c4! Td8 23.cxb5 Lb7 24.Dxd8+ Sxd8 25.bxa6 Lc8 26.Tg1 hätte etwas mehr Probleme gestellt, aber Schwarz steht auch hier auf Gewinn. 22…Td8 23.Lxb5 23.axb5 Lb7 24.Dxb7 Dxb7 25.bxc6 Dxc6-+ Kevei,P (2162)-Meszaros,A (2247), Hungary 2007, ist eine Partie, die in den üblichen Datenbanken enthalten ist und die ich nach meiner Partie schnell fand. Wieso ist sie dem Autor entgangen? 23…Lb7 24.Txd7 Dxd7 25.Lxc6 Lxa8 26.Lxd7 Txd7

Ich kämpfte hier noch ein wenig einfallsreich, aber die Partie war gelaufen. 27.Te1 Te7 28.Txe3 f5 29.b4 Lc6 30.c4 Lxa4 31.Kb2 Lc6 32.Kc3 Kg7 33.Kd4 Kf6 34.e5+ Kg5 35.Kc5 Te6! 36.Td3 La8 37.Td8? 37…Lxf3 38.Td6 Txe5+ 39.Kd4 Te4+ 40.Kc3 Le2 0-1

Fazit:
Ich kann das Buch zwar weiterhin als Nachschlagewerk und Repertoirebuch empfehlen, aber übernimmt bloß nicht blind die Varianten, insbesondere in Abspielen, in denen ein Fehler die Partie kostet.
Generell bestätigt das mal wieder den Eindruck, dass wohl kein Theoriebuch geschrieben wird, in dem nicht irgendein Mist als bare Münze verkauft wird, traurig.
Das war mir übrigens vorher noch nie passiert und ich kann es irgendwie noch immer nicht glauben.

Kommentare

11 Antworten zu “Die totale Verarsche”

  1. Haeberlin am 04. November 2009, 09:05

    Vielen Dank für diese lehrreiche Schilderung, zeigt sie doch den Wert selbständigen Denkens und die Gefahren blinder Autoritätsgläubigkeit in sehr anschaulicher Weise auf.

  2. Schachzoo am 04. November 2009, 09:17

    Herzliches Beileid!
    Ohne Dich jetzt irgendwie altklug belehren zu wollen, von wegen selber denken und so (ist uns doch allen schon mal so passiert), würde ich aber doch gerne anmerken, dass es relativ sinnlos ist, Milov in einer „Theorieschlacht“ zu kriegen. Da ist der Typ absolut wasserfest, das musste ich mehr als einmal feststellen.

    Viel Erfolg noch!

  3. Schach am 04. November 2009, 14:57

    Hi,

    da ich hier zum ersten mal einen Kommentar hinterlasse, muss ich als erstes mal ein großes Lob aussprechen – ich lese Deinen Blog schon seit einer kleinen Ewigkeit mit großem Vergnügen! Freue mich jedes mal, wenn ich entdecke, dass Du wieder etwas geschrieben hast.

    Deine heutige Überschrift finde ich aber etwas sehr hart. Ich kann mir gut vorstellen, wie bitter es ist, wenn man sich so gründlich auf eine Partie vorbereitet, und dann alles den Bach runter geht – mehr oder weniger ohne eigenes Verschulden.
    Habe mich aber am Ende gefreut, dass Du noch ein versöhnlichen Abschluss gefunden und das Buch trotzdem weiterhin noch empfohlen hast!

    Viele Grüße,
    Stefan

  4. Haeberlin am 04. November 2009, 15:24

    Die Kritik an der Überschrift teile ich, der Einschätzung „ohne eigenes Verschulden“ muss ich widersprechen.
    Wer fremde Analysen ungeprüft in eigenen Partien verwendet, lässt die im Verkehr – insbesondere in dem mit Großmeistern – erforderliche Sorgfalt außer acht.

  5. MiBu am 04. November 2009, 20:16

    Ist vielleicht ein Taimanov-spezifisches Problem. Ich zitiere aus Gelenczei, „200 neue Eröffnungsfallen“ Beitrag 102, die Fern(!)partie Schmidt-Fischer, 1965/66: „1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6 5.Sc3 e6 6.Le2 Dc7 7.f4 Sxd4 8.Dxd4 Se7 9.Le3 b5 10.0-0-0 Sc6 11.Dd2 Lb7 12.Lf3 Tc8? Glauben Sie auch, dass die Diagrammstellung gleiche Chancen bietet, wie es ein Theoriewerk behauptet?“ [Ich glaube, das war von Pachman(n), aber da bin ich nicht sicher.] Was Weiß geantwortet hat, dürfen die Leser selber raten, jedenfalls gab Schwarz danach auf. „(…) Wir wollen daraus lernen, dass wir nicht blind dem gedruckten Buchstaben folgen dürfen. Wir sollten uns stets selbst von der Richtigkeit des empfohlenen Zuges überzeugen.“ Da hat der Mann wohl recht.
    Übrigens liegt „Verarsche“ für mich dann vor, wenn man mit Absicht Leute aufs Glatteis führt (Das soll es auch schon gegeben haben, das GM absichtlich falsch kommentiert haben, um sich die richtige Fortsetzung für den naiven Gegner aufzuheben, der den Kommentar für bare Münze nahm.), das wollen wir hier doch nicht annehmen.

  6. Georgios Souleidis am 04. November 2009, 22:48

    Die Wortwahl in der Überschrift ist den Emotionen nach der Partie geschuldet und ist natürlich nicht gerechtfertigt. Ich gehe stark davon aus, dass der Autor das nicht mit Absicht gemacht hat.

  7. Jochen am 05. November 2009, 00:41

    Der Titel des Beitrags ist auf jeden Fall so anziehend, dass ich ihn trotz der späten Uhrzeit noch lesen musste.
    Ist doch ein tolles Stilmittel, um Aufmerksamkeit zu erregen. 🙂

    Die Ressource Sc6! finde ich übrigens durchaus gelungen. Ob ich sowas am Brett finden oder nach e5 verzweifeln würde, weiß ich nicht. 😉

    [Wurde eigentlich schon irgendwo erklärt, was dieses kleine „a“-Kästchen unter dem Beitrag verfassen soll? Ich hab’s jetzt mal aktiviert 😉 ]

  8. Georgios Souleidis am 05. November 2009, 11:28

    Das mit dem „a“-Kästchen hatte letztens schon einer gefragt. Wenn man drauf klickt, wird man über weitere Kommentare per E-Mail informiert. Da es falsch angezeigt wird, habe ich es nun deaktiviert.

  9. Jochen am 05. November 2009, 19:54

    Hallöchen,

    danke für die Antwort. Das mit dem a-Kästchen hat auch nicht so funktioniert, wie es soll, ich hab nämlich keine Nachricht ob deiner Antwort bekommen. Gut, dass es jetzt weg ist. 🙂

    Und entschuldige, dass ich noch mal gefragt hatte, irgendwie hatte ich das auch im Hinterkopf, war aber zu faul zum suchen. *pfeif*

    Grüßle
    Jochen

  10. Thomas Michalczak am 06. November 2009, 09:51

    Ich zitiere Jesus de la Villa:

    „9…0-0!? Another trendy variation whose theory has developed quickly in the last two years; all conclusions are provisional.“

    provisional {adj}
    schwebend
    vorläufig
    einstweilig
    provisorisch
    kommissarisch
    interimistisch
    zwischenzeitlich
    für den Übergang bestimmt
    notdürftig

    Sag bitte nicht, er hätte die Leser nicht gewarnt.

    Die Partie nach 13…b4, die Du als fehlend bemängelst, wurde am 25.August 2009 gespielt.
    Etwas zu frisch vermute ich.

    Bemängeln an dem Buch darf man ein fehlendes Literaturverzeichnis. Ansonsten finde ich das Buch super.

    Das die eröffnungstheoretische Entwicklung weiter geht, ist erfreulich.
    Trotzdem ist es bitter, dass es ausgerechnet Dich treffen musste.

    Viele Grüße,
    Tom

  11. Welche Varianten im offenen Sizilianer muss man kennen? - Seite 3 am 29. Juni 2013, 14:23

    […] Zitat von Dr.Rubinstein Noch bin ich nicht so weit, aber: Wo liegt der Fehler in der Taimanov-Variante? Er k?nnte diese Variante gemeint haben: Die totale Verarsche : Entwicklungsvorsprung […]

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